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Sex ohne Konsens ist kein Sex
Konsens ist ganz einfach: Sind die an einer Sache beteiligten Menschen einig, wie eine Sache gemacht wird oder gemacht werden soll, haben sie Konsens. Beim Sex bedeutet Konsens, dass die daran beteiligten Menschen – meistens sind es zwei – einig sind, miteinander Sex zu haben und es voneinander wissen. Eigentlich etwas Selbstverständliches. Nun wird vor allem in europäischen Ländern immer mehr öffentlich gefordert und teils per Gesetz beschlossen, dass dieser Konsens von allen, die gleich Sex haben wollen, mündlich oder schriftlich – zum Beispiel per App – geäussert werden soll. Schweden und Dänemark haben bereits solche Gesetze. Der Gedanke dahinter ist, Sexualdelikte zu verhindern oder einfacher verfolgen zu können.
Ob mit oder ohne App, das wichtigste bleibt unser Mindset, also wie wir über Sex denken. Jedem Menschen muss bewusst sein, dass beim Sex hemmungsloser Egoismus nicht nur das Vertrauen und unter Umständen die körperliche Integrität des Gegenübers zerstört, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen haben kann. Oder noch etwas deutlicher: Wenn du beim Sex ohne Zustimmung des Gegenübers Dinge tust, stehst du urplötzlich wegen Sexualdelikten vor Gericht. Bei schweren Sexualdelikten zerstörst du das Sexualleben deines Gegenübers sowie deine Existenz und kommst ins Gefängnis. Du wirst dich immer wieder daran erinnern, was du getan hast. Es wird dich ein Leben lang verfolgen, ebenso wird es bei deinem Gegenüber Teil seiner Erinnerung bleiben.
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Konsens ist also extrem wichtig. Können wir das berechtigte Anliegen des Konsens auch auf andere Weise als per App umsetzen? Können wir. Indem wir uns angewöhnen, einander zuzunicken, wenn wir mit dem Sex beginnen. Kleines Kopfnicken – grosse Wirkung. Ob vor Oralsex, vor Genitalsex oder vor Analsex. Ein gegenseitiges Kopfnicken geht in Sekundenschnelle und ist eindeutig. Jene, die nicht mit dem Kopf nicken können oder wollen, schauen einander in die Augen und schliessen dabei abwechselnd einmal die Augen.
Wer A sagt, muss beim Sex nicht B sagen
Weiterhin gilt beim Sex immer: Wenn uns etwas nicht gefällt, müssen wir es nicht tun. Auch wenn wir vorher auf irgendeine Weise - auch per App oder im Gespräch – «zugestimmt» haben. Wir sind nicht zu anschliessendem Sex verpflichtet, weil wir vorher mit dem Gegenüber küssen. Damit aber beim Gegenüber ankommt, dass wir etwas nicht mögen, müssen wir es ihm sagen oder auf eine andere Art nonverbal mitteilen. Dieses Kommunizieren fällt nicht immer leicht. Für guten Sex braucht es jedoch gute Kommunikation. Es turnt das Gegenüber meist an, wenn wir zeigen, dass uns etwas geil macht. Zum Beispiel, wenn wir aus purer Lust stöhnen. Genauso abturnend sollte es sein, wenn jemand Schmerzen hat und diese zeigt oder kommuniziert, dass etwas nicht passt. Die grosse Ausnahme ist BDSM. Aber auch beim BDSM gibt es – theoretisch – klare Regeln und Grenzen. Mehr dazu im Kapitel BDSM (folgt in Kürze).
Wenn jemand beim Sex «Stopp» sagt oder aufhört, wird sofort gestoppt. Solche Stopps sind normal und können auch bei gut eingespielten Paaren vorkommen. Als erstes klären wir zusammen mit dem Gegenüber den Grund für den Stopp.
Macht unser Gegenüber trotz Stopp-Signalen von uns weiter etwas, das wir nicht wollen und oder es weh tut, ist er oder sie in diesem Moment nicht nur ein Arschloch, sondern begeht auch eine Sexualstraftat. Und wir haben jedes Recht, uns dagegen zu wehren. Wenn verbale oder nonverbale Signale wie Körperabdrehen nichts bewirken, auch mit physischer Gewalt.
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Eigentlich haben wir einen recht guten Ratgeber, was beim Sex mit unserem Gegenüber okay ist und was nicht: Unser Bauchgefühl. Trotzdem können wir uns täuschen: Wenn wir etwas ins Gegenüber projizieren, was es nicht ist. Zu diesen verzerrenden Rückkoppelungen kommen wir gleich.

Fehlerkultur
Beim Sex passieren Fehler. Es ist keine exakte Wissenschaft. Wir machen in unserem Sexleben alle Fehler, grössere und kleinere. Unsicherheit, Unwissen und Egoismus sind die grössten Fehlerquellen. Und Rückkopplungen. Eine Rückkopplung passiert, wenn ein Erlebnis aus der Vergangenheit oder ein Erfahrungsmuster unser jetziges Verhalten verzerrt. Wir handeln nicht mehr so, wie wir eigentlich möchten.
Es gibt den zeitlichen und den personenbezogenen Rückkopplungseffekt.
Zeitliche Rückkopplungen
Unsere Erfahrungen beeinflussen uns immer. Das ist normal, der Mensch funktioniert so. Problematisch wird es, wenn wir deswegen falsche Erwartungen an das Gegenüber aufbauen, weil alte Geschichten unsere neue Geschichte mit einem schlechten Licht beleuchten. Und uns beide um guten Sex bringen. Ein Beispiel, wie ein Rückkopplungseffekt häufig funktioniert:
Tom war in seiner letzten Beziehung mit einem sehr unterwürfigen Mann zusammen, der auf erniedrigenden Sex stand. Nun lernt er mit Leo einen Mann kennen, der ihn in der Art oder vom Aussehen an seinen Ex erinnert. Er schliesst daraus, dass der neue Freund auf die gleiche Art von Sex steht und geht mit diesem Bild im Kopf an sein erstes Mal mit seinem neuen Freund. Tom verhindert jedoch eine jahrelange Gerichtsgeschichte mit Strafe, Busse und Strafregistereintrag, indem er Leo einfach sagt, was er möchte – ihn gerne etwas härter anpacken. Leo wiegt ab, naja, auf etwas Würgen steht er schon, auch mal etwas gepackt und an die Wand gedrückt zu werden.Tom passt darauf sein Verhalten an, die beiden finden sich, Leo geniesst es, Win-Win.
Harter Sex ist für Fortgeschrittene, in der Kennenlernphase ist zärtlicher, vorsichtiger Sex perfekt. Wer schon in der Anfangszeit härtere Praktiken möchte, hat auch die Eier oder Eierstöcke, diesen Wunsch vorgängig beim Gegenüber einzupflanzen – und wenn der Wunsch beim Gegenüber nicht wächst, es erst mal sein zu lassen. Generell gilt: Je ausgefallener ein Wunsch, desto behutsamer gehen wir beim Gegenüber vor. Und desto mehr Zeit geben wir dem Gegenüber, diesen Wunsch in sich wachsen zu lassen. Wenn der Wunsch beim Gegenüber nicht auf fruchtbaren Boden fällt und deshalb auch mit viel charmanter Überzeugungsarbeit nicht wächst, gilt es das zu akzeptieren.
Ein weiteres Beispiel:
Kim ist beruflich stark eingebunden, eine Beziehung liegt zurzeit nicht drin. Dafür unverbindlicher Sex. Normalerweise kommuniziert sie das auch gut, doch beim Treffen mit Res geht es irgendwie unter. Die beiden verstehen sich gut und landen bei ihr zuhause. Res hat nicht mit Sex gerechnet, Kim schon. Res ist überfordert, Kim zieht Res die Hose runter und – nimmt ihn nicht in den Mund. Sie hat beim Runterziehen der Hose bemerkt, dass Res Körper sich versteift, nicht aber sein Schwanz. Kim stoppt sofort und entschuldigt sich, Res murmelt zuerst etwas von, er sei gerade nicht in Stimmung. Genau, das ist er nicht, weil es nicht seinem Typ entspricht. Kim hatte vorher nur Männer kennengelernt, die gleich Sex wollen und darauf geschlossen, dass alle Männer so sind.
Die banale, aber trotzdem wichtige Erkenntnis: Je weniger lange und gut wir jemanden kennen, desto vorsichtiger sollten wir beim Sex vorgehen.
Selbst wenn wir jemanden gut kennen, kann es zu Rückkopplungen kommen.
Personenbezogene Rückkopplungen
Wir sind es gewohnt, dass unser Gegenüber auf eine bestimmte Art von Sex oder Sexpraktiken steht. Doch über längere Zeit, Jahre und Jahrzehnte, können Vorlieben ändern. Standen wir früher auch auf harten Sex, kommen wir nun nur noch bei zärtlichem Sex auf unsere Kosten. Oder umgekehrt. Oder wir entwickeln einen Fetisch und mögen Sex nur noch im Wald oder mit Gummmihandschuhen. Alles ist möglich. Für Paare, die lange zusammen sind, kann das zu einer ziemlichen Herausforderung werden.
Häufiger jedoch wird mit der Zeit das Spektrum an verschiedenen Arten von Sex breiter, auf die wir stehen.
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Kurz: Wir können einen Menschen noch so gut kennen, seine Vorlieben können sich ändern. Oft entscheidet die Tagesform und aktuelle Stimmung, worauf wir gerade Lust haben. Auch in langjährigen Beziehungen macht es deshalb Sinn, sich immer mal wieder über die Vorlieben und Fantasien auszutauschen. Doch selbst wenn wir und unser Gegenüber uns noch so viel Mühe geben, personenbezogene Rückkopplungen gibt es auch in sehr gut funktionierenden Beziehungen.
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